Die Naxos Music Library bietet bekanntermaßen als digitale Bildungsressource Zugriff auf ein schier unerschöpfliches Repertoire (an Aufnahmen) von klassischer Musik. Seit 2019 ist an die NML ein weiteres Portal angeschlossen, dass nur über die NML betreten werden kann.

Es ist das Portal „Naxos Musicology International“ (NMI) – eine Plattform zum Austausch aktueller musikwissenschaftlicher Forschung. Wir sprachen mit NMI-Chefredakteurin Davinia Caddy über Sinn und Zweck der neuen Webseite für Musikwissenschaft.

Mit dem Relaunch der Naxos Music Library im Jahr 2019 ging auch der Start der neuen Plattform Naxos Musicology International (NMI) einher. Wer hatte die Idee und was ist das Ziel, die Intention der Plattform?

DC: Wie auch der Beschreibung auf der Webseite zu entnehmen ist, ist Naxos Musicology International ist eine Online-Plattform für die Musikwissenschaft im weitesten interdisziplinären Sinne. Ähnlich wie eine traditionelle Zeitschrift will die Plattform die musikwissenschaftliche Arbeit zu einer Reihe von Repertoires, Genres, kreativen und wissenschaftlichen Ansätzen fördern und erweitern. Darüber hinaus wollen wir uns mit aufkommenden Trends in der Musikindustrie auseinandersetzen und die Überschneidungen zwischen Hörgewohnheiten, Konsum und Kritik (die so genannte „Aufmerksamkeitsökonomie“) sowie die aktuellen technologischen Entwicklungen untersuchen. Die Plattform verbindet Wissenschaftler, Studenten und Bildungseinrichtungen mit Kritikern und Fachleuten aus der Branche und will starken Stimmen Gehör verschaffen, fundierte Kritik und phantasievolle Kommentare fördern, d. h. ansprechende Texte in einem aufgeschlossenen Stil, die über soziale, kulturelle und institutionelle Grenzen hinweg gehen für sich sprechen lassen.

Mit dem Ausbau und der Weiterentwicklung der Plattform möchten wir uns auch spezifischer mit der NML befassen und über bestimmte Werke und Aufnahmen, Aufführungsstile und -traditionen sowie die Rolle des Interpreten im wissenschaftlichen Denken und in der wissenschaftlichen Praxis schreiben. Eines unserer grundlegenden Ziele ist es, Brücken zwischen Komponisten, Interpreten, Fachleuten und Wissenschaftlern verschiedener Richtungen zu schlagen.

Interdisziplinärer Ansatz

Das Fach „Musikwissenschaft“ wurde in historische, systematische und ethnische Musikwissenschaft unterteilt. Aber die Grenzen scheinen heutzutage immer mehr zu verschwimmen. Es scheint fast so, als ob der Begriff „Musikgeschichte“ ausgedient hat, und wir besser von „Musikgeschichten“ sprechen sollten. Braucht die Musikwissenschaft einen Neustart und ist das NMI der richtige Ort dafür?

DC: Die Musikwissenschaft im weitesten interdisziplinären Sinne des Begriffs umfasst eine Reihe von Ansätzen zur Untersuchung von Musik – theoretische, analytische, historische, soziologische, anthropologische, ethnografische, philosophische, konzeptionelle und so weiter. Einer der Gründe, warum in den letzten Jahren, insbesondere seit dem Aufkommen des so genannten Poststrukturalismus in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, ein solches Panorama wissenschaftlicher Ansätze entstanden ist, liegt darin, dass das Wesen der Musik selbst in Frage gestellt wurde. Wenn wir Musik studieren, untersuchen wir dann die notierte Partitur oder die gedruckte Ausgabe, den Komponisten als originäres Genie, oder interessieren wir uns für die flüchtige Aufführung, die Musikkritik (jede Art von Schrift), die Zuhörer und Zuschauer, die Instrumente und Technologien, die Musikindustrie und -institutionen, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen und kreativen Initiativen, unsere sinnlich-perzeptiven Reaktionen auf Musik, Kognition und Höranalyse? Der musikalische „Gegenstand“ der Untersuchung, das, was wir als ontologische Natur der Musik bezeichnen könnten, ist nicht mehr fest, stabil oder gar greifbar.

Manche Leute fragen vielleicht: „Wo sind die großen Komponisten unserer Tage, so wie einst Mozart oder Beethoven ?“ Was würden Sie ihnen sagen? Gibt es Komponisten mit einem solchen Einfluss schon, aber sie bekommen nicht die große Aufmerksamkeit? Oder ist die Art und Weise, wie wir heute über die Musikgeschichte denken, eine ganz andere?

DC: Ich denke, Sie beziehen sich auf den so genannten Kanon musikalischer Werke, ein Korpus oder Repertoire an Musik von meisterhaften (und fast immer männlichen) Komponisten, das im Laufe der Geschichte einen gewissen Goldstandard erreicht hat. Der Kanon als ein generatives Korpus (ein lebendiges Ding) könnte durchaus als tot, fertig und erledigt angesehen werden. Der Tod, so heißt es, trat in den Nachwehen der Moderne zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein – ein historischer Moment, in dem das, was wir als Standardmusikgattungen bezeichnen würden (Sinfonie, Oper, Ballett), allmählich aus dem Blickfeld geriet. In der Vorstellung der meisten Menschen existiert „moderne“ Musik als etwas vom klassischen Kanon der Meisterwerke Getrenntes; als Korpus des zwanzigsten Jahrhunderts wird „moderne“ Musik oft als Gegenpol zu den klassischen Merkmalen von Schönheit, Stil, Ausgewogenheit, formaler Logik usw. betrachtet.

Offene Plattform für unterschiedlichste Musikthemen

Kehren wir zu NMI zurück. Wer kann Artikel einreichen? Für welche Themen sind Sie offen?

DC: Jede(r), egal mit welchem Hintergrund und welcher musikalischen Vorliebe, kann Artikel für NMI einreichen. Sie können sich per E-Mail an mich wenden und/oder das Online-Formular verwenden. Jedes Thema wird berücksichtigt. Im Moment gibt es Meinungsbeiträge (zumeist anfragte Artikel zu bestimmten Themen), Begegnungen (subjektive Kommentare zu musikalischen Erfahrungen) und Essays (Beiträge zu einer Reihe von Musikthemen). Die Themen für Meinungsbeiträge werden lange im Voraus bekannt gegeben: Manchmal kann es bis zu 6 oder sogar 9 Monate dauern, bis sich eine bestimmte Gruppe von Artikeln zu einem bestimmten Thema herauskristallisiert.

Heißt das, dass es keine Richtlinien für Autoren gibt, welche Artikel auf NMI veröffentlicht werden und welche nicht?

DC: Letztendlich entscheide ich über die Beiträge, die auf die Plattform hochgeladen werden, wobei ich mich bei Bedarf mit Fachleuten auf einem bestimmten Gebiet berate, die die Beiträge lesen und prüfen. Unsere Autorenrichtlinien sind absichtlich recht locker gehalten, um die Autoren zu ermutigen, ihr Thema frei und aus jeder gewünschten Perspektive zu behandeln.

Hier ein paar Richtwerte:

  • Meinungsartikel, max. 3.000 Wörter
  • Begegnungen, max. 8.000 Wörter, rückbezüglicher Kommentar zu jeder Art von musikalischem Engagement
  • Aufsätze, max. 8.000 Wörter, zu einem beliebigen musikbezogenen Thema
  • Briefe an den Herausgeber, max. 800 Wörter, über alles, was Sie gelesen haben

Wir möchten lange Fußnoten vermeiden, insbesondere in Meinungsbeiträgen, und ermutigen die Autoren, Zitate im Text zu verwenden.

Alle auf der Plattform Naxos Musicology International veröffentlichten Beiträge sind mit einem Veröffentlichungsdatum versehen und werden automatisch archiviert: Aktuelles Material ist auf der Hauptseite zu finden, während Beiträge, die älter als sechs Monate sind, für Abonnenten im Bereich „Archiv“ der Website sichtbar sind.

Unsere Richtlinie sieht vor, dass es den Autoren freisteht, ihre Artikel auf persönlichen und/oder institutionellen Webseiten wiederzuverwenden, neu zu veröffentlichen und weiterzugeben. Dies kann auch sofort geschehen: Es gibt keine Sperrfrist. Wir bitten die Autoren, das Material, das in einer früheren Form auf unserer Plattform veröffentlicht wurde, entsprechend zu kennzeichnen.

Welche Vorteile ergeben sich für die Autoren, wenn sie Texte bei NMI einreichen? Verlieren die Autoren irgendwelche Rechte?

DC: Der Hauptvorteil der Veröffentlichung auf unserer Plattform besteht darin, dass sie einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird – nicht nur der potenziell kleinen Gruppe von Fachleuten, die andernfalls mit dem veröffentlichten Werk in Berührung gekommen wären, sondern auch einem breiten Publikum aus Wissenschaftlern, Studenten, Fachleuten und allgemeinen Musikliebhabern. Was die Rechte angeht, siehe oben.

Wo möchten Sie die NMI-Plattform in der weltweiten Landschaft der musikwissenschaftlichen Forschung ansiedeln. Würden Sie gerne mit Universitäten, Professoren und Studenten zusammenarbeiten oder sehen Sie das NMI eher als unabhängige Plattform?

DC: Wir haben bereits eine Reihe von Studenten, vor allem Doktoranden, zu Wort kommen lassen, und ich möchte dies unbedingt weiterhin fördern. Es ist immer noch eher die Ausnahme als die Regel, dass etwas während des Studiums in gedruckter Form veröffentlicht wird, denn die übliche Verzögerung zwischen Schreiben, Einreichung und Veröffentlichung ist zu groß. Wir können Artikel, insbesondere kurze Artikel, in wenigen Tagen statt in Monaten (oder sogar Jahren) veröffentlichen, so dass die Verzögerung geringer ist.

Gibt es Artikel, die Sie empfehlen möchten?

DC: Ich habe meine Favoriten, darunter einen sehr frühen Artikel über das Hören von Naturgeräuschen des Cornell-Professors und Verhaltensökologen Peter Wrege.

Derzeit sind auf NMI nur englischsprachige Texte verfügbar. Würden Sie auch Artikel in anderen Sprachen, z.B. Deutsch, aufnehmen?

DC: Ja, ich arbeite derzeit an Beiträgen auf Spanisch und Französisch, und natürlich auch auf Englisch.


Lust bekommen auf die Inhalte der Plattform Naxos Musicology International?

Wer Zugang zur NML hat, kann sich dort einloggen und links im Menü einfach auf den Menüpunkt Musicology bzw. Musikwissenschaft klicken.

Links:
Naxos Musicology International: https://www.naxosmusicology.com (Nur über die Naxos Music Library erreichbar)
Naxos Music Library: https://www.naxosmusiclibrary.com